Versanddienstleister: Wie man es nicht machen sollte. Der europäische Gerichtshof hat die Tage ein erstaunliches Urteil gefällt – im Kern ging es um die Frage ob Unternehmen die Kanalwahl im Kundenservice – hier Telefon – vorgeschrieben werden kann. Die Antwort war: Nein, viel wichtiger ist ein schneller und effizienter Kundenservice, hierauf ist das Hauptaugenmerk zu setzen.
In dem Kontext und eines je nach Sichtweise glücklichen – eigentlich eher unglücklichen – Zufalles hatten wir die Tage bei zwei Unternehmen der gleichen Branche ein sehr ähnliches Problem und uns – als Berater mit Fokus Kundenservice – daher die Mühe gemacht die Erfahrung mit dem Kundenservice der jeweiligen Unternehmen zu dokumentieren und nebeneinander zu legen. Der Vergleich wird überraschen – oder auch nicht, wenn man die Unternehmen kennt…
Marktführender Logistik-Konzern | Aufstrebender eCommerce-Versanddienstleister | |
Problem | Verlust der Ware in Verantwortung des Unternehmens, vermutlich Diebstahl | Verlust der Ware in Verantwortung des Unternehmens, vermutlich Diebstahl |
Genauere Beschreibung | Das Paket wurde nachweislich zwischen Abgabe im Shop durch den Versender und Ankunft beim Empfänger geöffnet, ein Teil der Ware, wertvolle Elektronikartikel, entnommen und neu verpackt. | Die Ware (wertvolle Elektronik-Artikel) wurde angeblich übergeben, aber der angegebene Name existiert gar nicht und ist auch in der Nachbarschaft unbekannt, die Unterschrift entspricht keinem Hausbewohner. |
Start der Kommunikation | Ein Freitagabend kurz nach 20:00 | Ein Freitagabend gegen 22:00 |
1. Ansatz | Webseite prüfen, wie man Kontakt mit dem Unternehmen aufnehmen kann. Es kommt eine Rufnummer hoch. Ganz klein steht da ein Sternchen, welches auf eine noch kleinere Fußnote mit den Öffnungszeiten verweist, wird aufgrund des Versteckes aber in dem Fall unbeabsichtigt übersehen | Webseite prüfen, es wird ein Chat angeboten |
2. Erster Kontakt | Hotline angerufen, es erfolgt eine IVR-Abfrage des Anrufwunsches sowie rechtliche Belehrungen (DSGVO); nach dem man die ganze Litanei durch hat kommt überraschend nach 2 Minuten die Ansage: Sie rufen außerhalb unserer Geschäftszeiten an, auf Wiedersehen. Wieso man das nicht gleich sagen kann, anstatt die Kunden erstmal zuzutexten? Keine Ahnung… | Im Chat geht direkt ein Agent dran, das Problem geschildert, der erste inhaltliche Satz des Agenten: Das tut mir leid, Ich habe Ihnen den Warenwert auf Ihrer Kreditkarte gutgeschrieben. Problem mit Empathie gelöst ohne weitere Nachweise, Diskussionen, Kunde happy |
3. Neuer Versuch | Auf der Webseite weiter nach Lösungen gesucht, ein Chat wurde direkt angeboten. | |
4. Der Chat | Ein Chatfenster mit einem Bot geht auf mit einer Frage nach dem Thema. Diebstahl im Versandprozess. Die erste und einzige Antwort: Damit kann ich leider nicht helfen. Bitte rufen Sie uns an. Habe ich doch schon… Sig, entnervt den Abend gut sein lassen. | |
5. Erneuter Anruf | Am nächsten Morgen die Hotline angerufen. Ein Agent geht nach vertretbarer Wartezeit dran. Problem erklärt, seine Antwort Damit kann ich an der Hotline nicht weiterhelfen, Sie müssen damit zu unserem Shop gehen. Auf meine Antwort, dass ich alle Unterlagen und Bilder dahabe und sie gerne auch digital übermitteln kann, kam die Antwort Wir können leider mit Ihnen nicht digital kommunizieren. | |
6. Im Shop #1 | Also am gleichen Tag auf in den Shop, wo die Ware verschickt wurde. Nach zwei Minuten wieder raus, der Auftraggeber und Vertragspartner darf keine Beschwerde aufgeben, dass muss der Empfänger machen; zudem können Sie garantieren, dass das ganz sicher nicht bei Ihnen passiert ist. Ne, ist klar, ich will aber mein Problem gelöst haben und die Ware ersetzt, dass der Dieb schwer zu finden ist, ist mir auch klar. Also den Empfänger gebeten in ein Shop zu gehen und den Diebstahl zu melden. | |
7. Im Shop #2 | Der Empfänger geht in den Shop. Geholfen wird nicht, leider können Sie die Beschwerde hier nicht weiterarbeiten, das komplette Paket muss an eine Fachabteilung eingeschickt werden. Der Empfänger bekommt ein Durchschlag auf Durchschreibepapier einer handschriftlich ausgefühlten Schadensanzeige, aber keine Infos wie es weiter geht. Erst mal stehen wir mit leeren Händen da; es gibt keine Trackinginformationen und das Paket ist auch wieder weg. | |
8. Das Paket ist wieder da | Nach ~10 Tagen kam das Paket wieder im Empfangszustand beim Empfänger an. Keine Info, wie es weitergeht. | |
9. Der Bescheid | Kurz darauf kommt beim Versender ein Brief mit Textbausteinen an, der eher einem behördlichen Bescheid entspricht. Das Problem wurde nicht durch uns verursacht, wir lehnen eine Haftung ab. Keine Begründung wieso. | |
10. Nachfrage | Im Brief ist eine Hotline- (und, sorry Ironie, Fax-) Nummer enthalten, prompt dort angerufen und nach einer Begründung gefragt. Leider können wir diese Themen an der Hotline nicht bearbeiten, bitte schreiben Sie einen Brief. | |
11. Zweite Nachfrage | Frech nochmals angerufen, ein etwas auskunftsfreudiger Agent erwischt. Das Paket sei ja zweimal zugeklebt, das sei gegen die Verpackungsvorschriften. Erneut erklärt, ja, das sei korrekt, das zweite Mal war ja eben beim Diebstahl in Verantwortung Ihres Unternehmens. Leider können Sie aber solche Themen nicht an der Hotline bearbeiten, bitte schreiben Sie ein Brief… | |
12. Ein Brief | Der Brief mit Erklärung des Unverständnisses und Nachfrage nach einer Begründung ging inzwischen raus, wir warten mehrere Tage auf Antwort | |
13. Email? | Es wird recht absurd. Es trudelt doch tatsächlich eine Email (?) ein. Als Absender wird nur eine kryptische Emailadresse angegeben, wäre fast als Phishingversuch gelöscht worden. Kein Inhalt, aber ein PDF als Anhang. Wieder bürokratische Textbausteine mit einer Nachfrage nach Bankverbindung (war bereits im Brief drin) und einer Geräte-ID. Wir lesen keine Emails, bitte antworten Sie nicht und laden Sie nur Bilder auf einem Webportal hoch. Absurd zum einen, da textliche Informationen angefragt, die nun als Foto hochgeladen werden sollen? Absurd aber auch zum anderen, da in keinster Weise auf den Bescheid und den Antwortbrief eingegangen wird und davon auszugehen ist, dass der ablehnende Bescheid weiter gilt. | |
14. Bildupload | Eine Antwort wurde hochgeladen, Verweis auf die bereits gelieferte Kontonummer und Aussage, dass die ID leider nicht bekannt ist, da die Ware originalverpackt gestohlen wurde – wie schon mehrmals im Serviceprozess erläutert. | |
15. Regulierung | Nach weiteren 2,5 Wochen kommt dann wieder eine Email (bitte antworten Sie nicht per Email) mit PDF, in dem neben einer Entschuldigung (!!!) die Regulierung zugesagt wird. Warten wir mal ab, ob das Geld auch wirklich kommt und wie lange das jetzt wieder dauert. |
Beim ersten Unternehmen ist das Problem nach einer langen, knapp sieben Wochen andauernden Odyssee – mit viel Mühe – behoben, hat aber einiges an Bearbeitungskosten und Aufwand beim Kunden und Dienstleister generiert, ohne den Kunden wirklich glücklich zu machen, das zweite Unternehmen wiederum wird weiterempfohlen, da man aus Erfahrung weiß, dass man sich in guten Händen befindet.
Schaut man sich aus Kundensicht die Schwachpunkte des ersten Unternehmens an, dann stellt man schnell fest, dass es eine Ansammlung von häufig vorkommenden Fehlern im Kundenservice handelt:
- Unsinnige IVR-Menu, welche den Kunden frustrieren
- Eingeschränkte Öffnungszeiten
- Zweifelhafte Reaktionszeiten – Bis zu 2.5 Wochen für eine elektronische Kommunikation? Wirklich?
- Fehlende Informationen z.B. sind die oben genannten Öffnungszeiten der Hotline auf der Webseite versteckt
- Forcierung auf spezifische Kommunikations-Kanäle, da nur dort Themen bearbeitet werden könnten (wieso eigentlich?), wobei die Kanalstrategie den einzelnen Mitarbeitern selbst nicht bekannt zu sein scheint und dem Kunden unsinnig erscheinen.
- Vordefinierte, unpassende Textbausteine in der schriftlichen Kommunikation
- Nicht befähigte Kundendienstmitarbeiter, egal ob im Shop, Contact Center etc., welche nicht in der Lage sind Kundenanliegen zu behandeln oder Entscheidungen zu treffen. Ebenfalls kritisch ist zu sehen – was erst nach Zahlungszusage öffentlich bekannt wurde -, dass das Unternehmen in Zusammenarbeit mit der Polizei in der Zwischenzeit gegen professionelle, mit genau dieser Methode vorgehende, diebische Mitarbeiter ermittelte und der Sachverhalt intern bekannt war.
- Kein Zusammenspiel der Kanäle, keine übergreifende Kontakthistorie, keine Bearbeitung als Konversation, das Problem musste jedes Mal neu erklärt werden
- Fehlende Sichtbarkeit eines Bearbeitungsstatus, Trackinginformationen oder Entscheidungsgründe. Es ist im gesamten Prozess nicht sichtbar wo wir gerade stehen und wie es weitergeht.
- Chatbot mit fehlender Einbindung in die Customer Care-Strategie (erkennbar beispielsweise am fehlenden direkten Handover zum Agenten, fehlende Kenntnis der Telefonie-Öffnungszeiten). Es drängt sich der Verdacht auf, dass das Unternehmen gemäß „Können wir auch“ aufgrund eines Hypes ein Chatbot einführen wollte, sich aber keine Gedanken gemacht hat, wie man solch ein Projekt strategisch umsetzt. Anmerkung: Inzwischen erscheint bei dem Bot die Meldung, dass er nur bestimmte Themen bedienen kann; war beim ersten Kontaktversuch nicht der Fall.
- Keine Möglichkeit der digitalen Kommunikation – nein, Fax und einzig das Hochladen von Bildern zählen wir ganz sicher nicht ernsthaft dazu… Das die Emails ohne Absender und nur mit kryptischer Emailadresse kommen, verwundert da nicht.
- Nutzung veralteter Technologien – Stichwort „Durchschreibepapier“ und „Wir können mit Ihnen nicht digital kommunizieren“ …
Von einem kundenzentrierten, digitalen, konversationsbasierten Omnichannel-Customer-Service ist man auf jeden Fall weit entfernt. Ganz zu schweigen davon, dass jede Interaktion sich eher als eine Kundenabwehr angefühlt hat und sich keine einzige Kontaktperson einmal ernsthaft für das Problem des Kunden interessierte oder Empathie äußerte. Aus Kundensicht wurden hier die Anforderungen des Europäischen Gerichtshofes ganz klar nicht eingehalten.
Beim anderen Unternehmen wird ein Chat angeboten, da jemand verfügbar ist, der Agent hat Zugriff auf die Kundendaten, geht auf den Kunden ein und hat das Vertrauen seines Unternehmen bei nachvollziehbaren Problemen direkt im Kundeninteresse selbst Entscheidungen über Kompensationszahlungen zu treffen und die Themen zu lösen – was will man als Kunde mehr?